Hannes (l.) und Niklas sind zwei der Blindenreporter aus dem achtköpfigen Team bei Hannover 96.   Foto: Hannover 96 Foto: Hannover 96

Mit den Ohren Fußball sehen

14. Mai 2024

Hannes Lampe und Kollegen ermöglichen Blinden und Sehbehinderten das Besuchserlebnis Stadion.

Durch Worte Bilder erzeugen und das Kopfkino in Schwung bringen – das ist eine Kunst, die wenige beherrschen. Hannes Lampe und seine Kollegen schaffen das. Mit ihren Reportagen helfen sie blinden und sehbehinderten Fußballfans, das Spiel zu verstehen.

Minute 68 im Fußball-Zweitligaspiel zwischen Hannover 96 und dem 1. FC Kaiserslautern. Seit einer Viertelstunde führen die Gäste mit 1:0. Ist das schon das Aus für die Aufstiegsträume der Landeshauptstädter? Da fliegt eine Flanke in den Strafraum der Pfälzer, 96-Mittelstürmer Andreas Voglsammer ist zur Stelle und jagt den Ball volley ins Tor. 1:1. Der Jubel in der gut gefüllten Arena ist groß, die Fans liegen sich in den Armen. Auch die, die den Treffer gar nicht haben sehen können, gehen euphorisch mit. Ihnen hat Hannes Lampe ganz genau berichtet, was gerade passiert ist. Er ist einer von acht Stadionreportern, die Sehbehinderten das Spielgeschehen regelmäßig verbal näherbringen.

Obligatorisch seit der Weltmeisterschaft 2006

Die Idee der Sehbehinderten- oder auch Blindenreportage stammt aus der englischen Premier League und wurde im Oktober 1999 erstmals in Deutschland erprobt. Bei der Premiere in Leverkusen war noch vieles Improvisation. Doch erstmals wurden sehbehinderte Fußballfans in die Lage versetzt, über Kopfhörer ein Fußballspiel live vor Ort nicht nur atmosphärisch mitzuerleben. Vielmehr bekamen sie nun auch die spielrelevanten Details vermittelt. Sprecher war zum Auftakt übrigens ein Jugendtrainer. Die Wahl war auf ihn gefallen, weil er Kindern einfach und anschaulich erklären konnte, wie Fußball funktioniert.

Die durchweg positive Resonanz sorgte dafür, dass dem Beispiel Bayer 04 Leverkusens weitere namhafte deutsche Vereine folgten. Einen richtigen Schub gab es dann im Umfeld der Weltmeisterschaft 2006. Der Weltverband FIFA wollte angesichts bis dahin fehlender oder unzureichender gesetzlicher Normen zum Stadionbau sicherstellen, dass das für die WM von allen Beteiligten angestrebte Niveau bei der Ausrichtung auch für behinderte Fußballfans erreicht wird. So wurde schon weit im Vorfeld eine Reihe von Qualitätsstandards ausgearbeitet. Nach einigem Hin und Her nahm man schließlich auch die Forderung nach Blindenreportagen in die Liste auf. Inzwischen sind sie bei jeder Welt- und Europameisterschaft im Fußball obligatorisch.

Von der Stadionreportage bis in die Sportschau

Hannes Lampe ist 96-Fan seit Kindestagen. An seinen ersten Besuch in der Nordkurve erinnert er sich noch genau: „Das war gegen Mainz, unsere Roten führten kurz vor Spielende mit 2:1. Da meinte Papa, wir sollten jetzt besser schon gehen. Und so haben wir prompt das dritte Tor verpasst.“ Der Liebe zum Verein und zum Fußball tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil. In Hannes reifte der Wunsch, Sportreporter zu werden. Beruf und Leidenschaft miteinander zu kombinieren – das klang für den jungen Hannoveraner äußerst reizvoll.  

Es kam anders. Heute ist Hannes Lehrer für Politik und Spanisch. Ans Mikrofon und ins Stadion hat er es trotzdem geschafft. Wenn auch – bis auf eine kleine Aufwandsentschädigung – ohne Bezahlung. „Während des Studiums hatte ich eine Ausschreibung für die ehrenamtliche Mitarbeit als Blindenreporter gesehen und mich daraufhin beworben.“  

Das Team umfasst zurzeit sieben weitere Kollegen, alles Männer. Das war allerdings nicht immer so. Der mittlerweile 31-Jährige erinnert sich an die ebenfalls aus Hannover stammende Stephanie Baczyk, die heute als Reporterin für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) arbeitet und unter anderem für die Sportschau Spiele der Fußball-Bundesliga kommentiert. „Auch sie hat in frühen Jahren die Schule der Blindenreportage durchlaufen“, weiß Hannes zu berichten.

Der Fußballreporter wird zum Dolmetscher

Den Reporter, der weiterhin auch Fan ist, zieht es selbstverständlich ebenfalls ins Stadion, wenn Kollegen am Mikrofon im Einsatz sind. Während der Spiele sind die den mit Kopfhörern ausgestatteten Fans ganz nah. „Die Sehbehinderten sitzen im Ostunterrang alle dicht beieinander, ich mittendrin“, erklärt Hannes Lampe. Der direkte Kontakt fasziniert ihn, er bekommt sofort Feedback auf seine Worte. „Das ist letztlich der gravierende Unterschied zur gewöhnlichen Hörfunk-Reportage.“  

Ein weiterer: Alle hörbaren akustischen Reaktionen auf das Spiel müssen für die blinden und sehbehinderten Fans übersetzt werden. „Für sie bin ich so etwas wie Dolmetscher, der ihnen hilft, gewissermaßen mit den Ohren zu sehen.“ Wenn der Schiedsrichter Abseits pfeift oder die Menge wegen einer vergebenen Großchance aufstöhnt, ist es Hannes‘ Aufgabe zu erläutern, was da vor sich geht.

Darüber hinaus darf er sich nicht zu sehr mit der Wiedergabe von Belanglosigkeiten, Randnotizen oder gar Statistiken aufhalten. Welche Farbe Trikot oder Schuhe des Torwarts haben? Vollkommen egal. Ob der Verteidiger den Ball mit dem linken oder rechten Fuß stoppt? Interessiert niemanden. Stattdessen geht es etwa darum, den Zuhörenden ein Gefühl dafür zu geben, wo sich das Geschehen abspielt – im Mittelfeld, an einem der Strafräume oder an der Seitenlinie. Positionen sind wichtiger als Spielernamen. „Ich muss einfach immer auf Ballhöhe sein“, fasst Hannes Lampe zusammen. Und auch wenn am Spielfeldrand der Trainer ausflippt oder eine Auswechslung vorbereitet wird, sollte der Reporter das möglichst nicht übersehen.